Vor hundert Jahren wurde im Essener Südviertel das Filmstudio Glückauf eröffnet. Heute ist es das älteste fast original erhaltene Kino im Ruhrgebiet, womöglich in ganz Nordrhein-Westfalen. Den 100. Geburtstag nehmen Ruhr Museum und Essener Filmkunsttheater zum Anlass für eine Sonderausstellung. „Glückauf — Film ab! Kino- und Filmgeschichte des Ruhrgebiets“ erzählt mit über 900 Exponaten aus Museen, Archiven, Kinos und Privatbesitz ein spannendes Stück Kulturgeschichte. „Es ist eine der schönsten Ausstellungen, die wir je gemacht haben“, schwärmt Museumsdirektor Prof. Heinrich Theodor Grütter, der die Ausstellung mit einem Team aus acht Kuratorinnen und Kuratoren entwickelt hat. Dass sie gerade auf Zollverein gezeigt wird, passt: „Film war das Unter haltungsmedium der arbeitenden Bevölkerung und spielte damit im Ruhrgebiet eine zentrale Rolle“, sagt Prof. Heinrich Theodor Grütter.
Überhaupt ist die Geschichte der Industrie eng verwoben mit der des Kinos, wie die Ausstellung zeigt. Da war zum Beispiel der Industrielle Hugo Stinnes, der nach dem Ersten Weltkrieg die Investition in die Filmwirtschaft als gute Möglichkeit begriff , an schnelles Geld zu kommen. Da war Alfred Hugenberg, 1909 bis 1918 Finanzdirektor bei Krupp, der an der Gründung der Deutschen Lichtbild-Gesellschaft e. V. beteiligt war, später die UFA übernahm und zu jenem dunklen Kapitel der Kinogeschichte beitrug, in dem Kino zu Propaganda zwecken missbraucht wurde. Auch die Vorführtechnik ist eng mit dem Namen Krupp verbunden. Weil die Firma die Abläufe beim Abfeuern von Geschossen sichtbar machen wollte, wurde im Ruhrgebiet die Zeitlupe erfunden.
Lebendige Kinogeschichte
Durch zahlreiche Fotos, original erhaltene Projektoren, Kinositze und zwei ganze Kassenhäuschen lässt „Glückauf – Film ab!“ mehr als hundert Jahre Kinogeschichte lebendig werden. Beginnend mit den Anfängen um 1900, als Wanderkinos umherzogen. Das Kino als fester Ort ist ein Kind der 1920erJahre. Damals entstanden die ersten großen Kinopaläste. Der UFA Palast in Dortmund, die Lichtburg in Bochum und die Essener Lichtburg, die noch heute über den größten Kinosaal Deutschlands verfügt — mit 1.250 Sitzplätzen. Seine Hochzeit erreichte das Kino in den Wirtschaftswunderjahren. Das Jahr 1957 markiert den Höhepunkt des deutschen Steinkohlenbergbaus — mit damals 500.000 Beschäftigten allein im Ruhrgebiet — und zugleich seinen langsamen Niedergang. Und es markiert ebenso den Höhepunkt der Kinos: Beeindruckende 400 gab es 1957 im Ruhrgebiet. Heute sind nur noch 50 Filmtheater in Betrieb.
Jede Menge Filme
Das Ruhrgebiet blickt auch auf eine spannende Filmgeschichte zurück. Im Bereich Spielfilm etwa hat sich mit dem Strukturwandel der Ruhrgebietsfilm als Genre entwickelt. Filme wie „Theo gegen den Rest der Welt“ mit dem jungen Marius Müller-Westernhagen, „Jede Menge Kohle“ von Adolf Winkelmann oder der Kult-Klassiker „Bang Boom Bang“ liefern eine liebevoll-ironische Auseinandersetzung mit der Region. Mit Werner Nekes, Dore O., Christoph Schlingensief und Helge Schneider entwickelte sich zudem eine ganz eigene Avantgarde-Filmer-Szene. Das Ruhrgebiet entpuppte sich aber auch als beliebte Kulisse für Filme ohne Ruhrgebietsbezug. So wurden Szenen für den Blockbuster-Film „Die Tribute von Panem“ im Landschaftspark Duisburg-Nord und auf dem Gelände der Henrichshütte Hattingen gedreht. Von all diesen Filmen zeugen Filmplakate, Drehbücher, Fotos, Requisiten und Filmausschnitte. Als Begleitprogramm zur Ausstellung zeigen die Essener Filmkunsttheater in 25 Sonntagsmatinéen Spielfilme mit Ruhrgebietsbezug.
Ein eigenes Kapitel der Ausstellung widmet sich dem Thema Kino und Film im interkulturellen Kontext. Mit zunehmender Industrialisierung kamen Menschen aus aller Welt in die Region. Die migrantische Bevölkerung brachte ihre eigenen Filme mit, begann selbst zu produzieren und Filmfestivals zu organisieren. „Dieser Teil der Filmkultur im Ruhrgebiet ist nicht in den Stadtarchiven dokumentiert. Das ist sehr bedauerlich“, berichtet Co-Kuratorin Meltem Kücükyilmaz, die viel Wissen und Material zusammengetragen hat. In den 1960erJahren etwa begannen Kinos, Filme aus der „Heimat“ von sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern im Original zu zeigen. Später spielten insbesondere in der türkischen Community VHS-Videokassetten eine große Rolle für das Heimkino mit benachbarten Familien oder Freundinnen und Freunden.
Unglaublicher Fundus
So viel Eindruck manch Ruhrgebiets-Kultfilm auch hinterlassen haben mag, spielen sie mengenmäßig eine eher kleine Rolle. „Die Anzahl inszenierter Spielfilme ist übersichtlich“, berichtet Paul Hofmann von der Kinemathek im Ruhrgebiet, der das Filmprogramm der Ausstellung beigesteuert hat. „Den größten Teil der im Ruhrgebiet gedrehten Filmen machen Dokumentarfilme aus.“ Eines der sehr wenigen vollständig erhaltenen Filmdokumente aus der Frühzeit des Films im Industriegebiet stammt aus Bottrop: eine Lokalaufnahme von 1913, in Auftrag gegeben von Kinopionier und Gastronom Theodor Beulmann, der im Bierkeller sein „WeltTheater“ eröffnete. „Foto und Film lösten im Industriezeitalter die Malerei als Abbildungsmedium ab“, berichtet Prof. Heinrich Theodor Grütter. Krupp etwa nutzte das Medium früh und intensiv.
Über die Jahrzehnte entstand ein unglaublicher Fundus an Dokumentarfilmen, darunter auch solche aus der Independent-Szene. An dreizehn Dienstagabenden lässt Paul Hofmann auf Zollverein das Publikum an jeweils mehreren ausgewählten Schätzen dieser Sammlung teilhaben. Es gibt historische StadtPorträts genauso zu sehen wie Dokumentationen aus der Zeit der Ruhrbesetzung, der Nachkriegszeit und des Strukturwandels. Von der Lebens-Geschichte des Bergarbeiters Alphons S. bis zum Kampf um die Arbeitersiedlungen im Revier. Die Ausstellung zeigt zudem 29 Porträts von Dokumentarfi lmerinnen und fi lmern. „Viele davon sind ins Ruhrgebiet gekommen und geblieben“, sagt Paul Hofmann. „Einen Dokumentarfilm macht man eben nicht im Vorbeigehen.“