„Zollverein war schon immer ein Ort der Superlative“, sagt Gästeführer Werner Frewer und lässt den Blick über das gewaltige Areal von rund einem Quadratkilometer schweifen. Vom Dach der Kohlenwäsche aus erschließt sich ein faszinierendes Panorama. Im Norden ist der Neubau der Folkwang Universität der Künste zu erkennen, etwas weiter östlich die Gründerschachtanlage 1/2/8. „Der Gründerschacht ist eine gewachsene Anlage mit sehr unterschiedlichen Gebäudeformen, die nach und nach entstanden sind. So sahen Zechen um die Jahrhundertwende aus“, erklärt der Essener, der selbst lange Jahre als Architekt tätig war. Ganz anders präsentiert sich nur wenige hundert Meter weiter südlich der 1932 fertiggestellte Schacht XII: „Die Schachtanlage der Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer hat Maßstäbe gesetzt und nachfolgende Generationen maßgeblich beeinflusst.“ Der Kontrast zum Gründerschacht könnte kaum größer sein. Das wird beim Blick auf die wohlproportionierte Anordnung der Schachtanlage XII vom Dach der Kohlenwäsche aus besonders deutlich. Ebenfalls im Hintergrund zu erkennen ist das SANAA-Gebäude aus dem Jahr 2006, das mit seiner kubischen Form und der außergewöhnlichen Anordnung der Fenster das industrielle Erbe mit der Moderne verbindet. Spätestens jetzt wird deutlich: Die Architektur am Standort Zollverein verdient eine eingehende Betrachtung.
Schacht XII als Gesamtkunstwerk
Die neusachlichen, im Sinne der Bauhaus-Architektur gestalteten Stahlfachwerkgebäude von Schacht XII brachten Zollverein den Ruf als „schönste Zeche der Welt“ ein. „Sie sind Ausdruck der engen Verbindung von Ingenieurleistung und Architektur und haben die Industriearchitektur für die nachfolgenden Jahrzehnte geprägt“, berichtet Werner Frewer beim Gang über den Ehrenhof. Durchgestaltet bis in die Details der Lampen, Treppengeländer und Lichtmasten ist der komplett erhaltene Komplex von Zeche und Kokerei Zollverein ein Gesamtkunstwerk und repräsentiert exemplarisch die soziale, ökonomische, ästhetische und industrielle Geschichte des Kohle- und Stahlzeitalters. Im Dezember 2001 wurden Zeche und Kokerei in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen. In ihrer Begründung benannte die UNESCO zwei zentrale Kriterien für die Entscheidung: „Der Industriekomplex Zeche Zollverein in Essen ist ein bemerkenswertes Industriedenkmal, weil seine Gebäude herausragende Beispiele für die Anwendung der Gestaltungskonzepte der Bauhaus-Architektur in einem industriellen Gesamtzusammenhang sind.“
Zusammenspiel von Architekt und Ingenieur
Mit der Gestaltung des Zechenkomplexes Zollverein Schacht XII waren Fritz Schupp (1896–1974) und Martin Kremmer (1894–1945) beauftragt worden. Ihr Studium – durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen – fiel in eine Zeit der inhaltlichen Neuorientierung. Als sie 1928 mit dem Bau von Schacht XII begannen, hatten die beiden jungen Architekten bereits erste Erfahrungen mit dem Industriebau im Ruhrgebiet gesammelt. Ihr Werk kann nicht losgelöst vom architekturhistorischen Hintergrund, von der Entwicklung der Bergbauarchitektur und der Wirtschaftsgeschichte der Auftraggeber betrachtet werden. Aufgewachsen waren sie in einer Zeit, in der Unternehmer ihren wachsenden Wohlstand auch baulich zum Ausdruck bringen wollten. „Bis 1900 herrschte bei Industriebauten der Historismus vor. Die Fassaden von Fabrikhallen orientierten sich an der Gestaltung von anderen Großbauten wie Schlössern, Rathäusern und Bahnhöfen. Hier hatte man noch keine eigenständige Form für Industriearchitektur gefunden“, erklärt Werner Frewer mit einem Verweis auf die Geschichte. Der Verlauf des Ersten Weltkriegs jedoch setzte der wilhelminischen Repräsentationsarchitektur ein jähes Ende. Schlichtheit wurde zum obersten Gebot der neuen Fabrikarchitektur erhoben, wobei schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Wunsch nach einer zweckbestimmten Gestaltung laut geworden war. Walter Gropius, der Gründer des Bauhauses, setzte den Fokus auf das Zusammenspiel der Gewerke und forderte eine Arbeitsgemeinschaft zwischen Künstler, Kaufmann und Techniker. „Dieser Bauhaus-Gedanke liegt auch der Architektur von Fritz Schupp und Martin Kremmer zugrunde. Eine frühe, viel beachtete Publikation der beiden trägt den Titel ,Architekt gegen oder und Ingenieur‘. Sie konnten so ästhetische Gebäude schaffen, die alle funktionalen Bedürfnisse berücksichtigten und zur Perfektionierung der technischen Abläufe beitrugen“, betont Werner Frewer.
Die Einfachheit der Formen
Die letzte Schachtanlage der Zeche Zollverein entstand in den Jahren 1928 bis 1932 unter dem Eindruck der weltweiten Technisierungs- und Rationalisierungsbemühungen. Ohne Frage: Dieser Auftrag war eine besondere Herausforderung für Schupp und Kremmer. Zum ersten Mal sollte mit dem neuen Schacht XII eine komplett durchrationalisierte Anlage entstehen, die sich dennoch stimmig in das bestehende Umfeld einfügt. Bereits 1929 formulierten die beiden Architekten ihren Anspruch: „Wir müssen erkennen, dass die Industrie mit ihren gewaltigen Bauten nicht mehr ein störendes Glied in unserem Stadtbild und in der Landschaft ist, sondern ein Symbol der Arbeit, ein Denkmal der Stadt, das jeder Bürger mit wenigstens ebenso großem Stolz dem Fremden zeigen soll wie seine öffentlichen Gebäude.“ Damit wagten sie den Sprung, die übergeordnete Zweckbestimmung in eine zeitlose Form zu bringen, und befreiten sie von allem schmückenden Beiwerk. Indem sie die primären Tragstrukturen von den leicht veränderbaren Umhüllungen trennten, ließen Schupp und Kremmer viel Raum für flexible Anpassungen und Ergänzungen, die sich harmonisch an Bestehendes anfügen ließen. Dadurch ist das architektonische Ensemble in seinem gesamten Erscheinungsbild bis heute nahezu unverändert geblieben. Gleichzeitig galt es, das Gebot der Sparsamkeit zu beachten, und so wurden konsequent einheitliche Detailpunkte entwickelt. „Der gesamte Gebäudekomplex besteht aus selbsttragenden Hallen. Die Stahlfachwerk-Fassade ist nur vorgehängt und lässt sich nach dem Baukastenprinzip erweitern. Dadurch konnte stets schnell auf veränderte Anforderungen reagiert werden, so zum Beispiel, wenn neue Maschinen installiert werden mussten“, beschreibt Werner Frewer. Von dieser Bauweise profitieren die Umnutzungsüberlegungen auf Zollverein übrigens bis zum heutigen Tag.
Symmetrie mit zwei Blickachsen
Das Ergebnis galt von Beginn an als technisches und ästhetisches Meisterwerk der Moderne. „Architektonisch haben wir es hier mit der Neuen Sachlichkeit zu tun. Schupp und Kremmer haben sie auf das Notwendige reduziert, dabei aber nie die Gestaltung aus dem Blick verloren. Diese Bauweise war kostengünstig und zugleich ästhetisch ansprechend“, so Werner Frewer. Den 20 Einzelgebäuden liegt auch die Bauhaus-Maxime zugrunde, dass sich die Form an der Funktion orientieren soll. Dieses auf dem Effizienzgedanken „form follows function“ fußende Prinzip verbindet Zollverein mit den zukunftsweisenden Visionen der Bauhaus-Zeit in den 1920er-Jahren. Noch heute besticht die Anordnung der Gebäude auf zwei Blickachsen. „Der Komplex verfügt über eine Energie- und eine Produktionsachse. Wobei derjenige, der auf dem Ehrenhof steht und frontal auf den Doppelbock schaut, dies erst auf den zweiten Blick erkennen kann. Hier rundet sich durch die geschickte Staffelung der Gebäude im Hintergrund alles zu einer gewichteten Symmertrie ab“, sagt Werner Frewer und macht auf die proportionale Stimmigkeit der Gebäude aufmerksam. Gleichzeitig erfüllte die moderne Architektur vor allem in den Anfangsjahren auch repräsentative Aufgaben: Die neue, technikgläubige Unternehmergeneration wollte ihrem wirtschaftlichen Erfolg auch in der Baukunst Ausdruck verleihen. „Die Vereinigte Stahlwerke AG präsentierte der Öffentlichkeit auf dem Ehrenhof ein Bergwerk ohne Menschen. Die Gestaltung des Fördergerüsts, die vertikale Anordnung der Fenster und die Ästhetik der Fassadentextur ziehen noch heute den Blick des Betrachters wie auf Schienen nach oben zu den Seilscheiben. Die Technik wird abstrahiert. Wie die Menschen hinter den Fassaden arbeiteten, erfuhren die Besucher von damals nicht.“
Ausstellungen, Konzerte, Workshops und Sonderführungen zum Bauhaus-Jahr
Für ein weitreichendes Interesse an der Zollverein-Architektur wird das Bauhaus-Jahr 2019 sorgen. Im Rahmen des Jubiläums „Bauhaus 100“, das deutschlandweit begangen wird, ist das UNESCO-Welterbe Zollverein mit Zeche und Kokerei zentraler Ankerpunkt von 100 Orten der Route der Moderne. Gefeiert wird das Bauhaus-Jahr mit einem Festival sowie mit unterschiedlichen Ausstellungen, Aufführungen, Konzerten, Workshops und Vorträgen. Darüber hinaus wird ab 2019 an jedem zweiten Samstag eines Monats ab 14 Uhr eine Architektur-Sonderführung unter dem Titel „Neue Sachlichkeit, Bauhaus und die Zollverein-Architektur“ angeboten. Das freut auch Gästeführer Werner Frewer: „Die Zollverein-Architektur hat ein weitreichendes Interesse verdient. Sie ist verständlich und lässt sich gut vermitteln.“