Das Bergwerk als Riesenmaschine und Repräsentationsbau (1847–1986)
Von Zollverein aus wurde deutsche Industrie- und Wirtschaftsgeschichte geschrieben: 1847 ließ der Unternehmer und Industriepionier Franz Haniel im Essener Norden den ersten Schacht abteufen. Wurden im ersten Jahr der Steinkohlenförderung 1851 noch 13.000 Tonnen Kohle gefördert, waren es 1890 bereits eine Million Tonnen. Die Fettkohlenvorräte im Essener Norden waren groß, sodass neben der Gründerschachtanlage 1/2/8 in den folgenden 60 Jahren mit den Schachtanlagen 3/7/10, 4/5/11 und 6/9 auf dem Grubenfeld Zollverein drei weitere Anlagen mit insgesamt acht Schächten errichtet wurden.
Die letzte Schachtanlage der Zeche Zollverein entstand in den Jahren 1928 bis 1932 unter dem Eindruck der weltweiten Technisierungs- und Rationalisierungsbemühungen Als sich am 1. Februar 1932 zum ersten Mal die Räder am Fördergerüst über der neuen Schachthalle XII drehten, ging ein industrieller Hochleistungskomplex mit weitgehend automatisierten Arbeitsabläufen in Betrieb, der sich an dem Prinzip des aus Amerika importierten Fordismus orientierte – also der Fließbandproduktion. Das Bergwerk rund um den 55 Meter hohen Doppelbock galt von nun an als das größte und leistungsfähigste weltweit. 1972 erreichte Schacht XII seine endgültige Tiefe von circa 1.000 Metern. Tag für Tag wurden mehr als 23.000 Tonnen Rohkohle ans Tageslicht geholt – eine Förderleistung, die der vierfachen Menge einer durchschnittlichen Revierzeche entsprach. Während der gesamten Betriebszeit wurden zwischen 1851 und 1986 insgesamt 240 Millionen Tonnen Kohle abgebaut. Über und unter Tage waren bis zu 8.000 Bergleute im Schichtwechsel beschäftigt, insgesamt haben bis zur Schließung der Zeche Zollverein 1986 mehr als 600.000 Menschen auf Zollverein gearbeitet.
„Schönste Zeche des Ruhrgebiets“, „Wunderwerk der Technik“, „Kathedrale der Industriekultur“ – Zollverein war schon immer ein Ort der Superlative. Mit der Gestaltung des Zechenkomplexes Zollverein Schacht XII waren Fritz Schupp (1896–1974) und Martin Kremmer (1894–1945) beauftragt worden. Die beiden jungen Architekten hatten bereits Erfahrungen mit dem Industriebau im Ruhrgebiet. Doch dieser Auftrag war eine besondere Herausforderung: Zum ersten Mal sollte mit dem neuen Zollverein Schacht XII eine komplett durchrationalisierte Schachtanlage entstehen. Das Ergebnis galt von Beginn an als technisches und ästhetisches Meisterwerk der Moderne, für dessen Realisierung Ingenieure und Architekten eng zusammenarbeiteten. Zudem war mit Zollverein eine Musterzeche entstanden, die dem Repräsentationsbedürfnis der Eigentümer Vereinigte Stahlwerke AG Rechnung trug und von Beginn an in der Fachwelt für große Aufmerksamkeit sorgte. Die Architekten formulierten diesen Anspruch im Jahr 1929: „Wir müssen erkennen, dass die Industrie mit ihren gewaltigen Bauten nicht mehr ein störendes Glied in unserem Stadtbild und in der Landschaft ist, sondern ein Symbol der Arbeit, ein Denkmal der Stadt, das jeder Bürger mit wenigstens ebenso großem Stolz dem Fremden zeigen soll, wie seine öffentlichen Gebäude.“
Die Kokerei Zollverein (1961–1993)
Im gleichen neusachlichen Stil wurde von 1957 bis 1961 – ebenfalls nach Plänen von Fritz Schupp – die Kokerei Zollverein westlich von Schacht XII gebaut und am 12. September 1961 in Betrieb genommen. Auch die Kokerei schuf Produktionskapazitäten der Superlative. Nach ihrer Erweiterung in den 1970er Jahren wurden auf der sogenannten „schwarzen Seite“ in 304 Öfen bei 1.250 Grad täglich 10.000 Tonnen Kohle zu 8.600 Tonnen Koks „gebacken“. Die dabei entstehenden Gase wurden auf der „weißen Seite“ zu Ammoniak, Rohbenzol und Teer weiterverarbeitet. In Spitzenzeiten hatte die Kokerei 1.000 Mitarbeiter. Als letzte noch aktive Zollverein-Produktionsanlage wurde sie 1993 stillgelegt.
Pionierphase: Erhalt des Denkmals durch Umnutzung (1986–2001)
Am 23. Dezember 1986 schloss die Zeche Zollverein als letzte von rund 290 Zechen in Essen, der ehemals größten Bergbaustadt Europas. Bereits am 16. Dezember 1986 war das einzigartige Ensemble der Bergbauarchitektur unter Denkmalschutz gestellt und auf diese Weise vor dem Abriss gerettet worden. Der Erhalt Zollvereins und weiterer denkmalwerter Monumente des Industriezeitalters war Teil der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park, ein auf zehn Jahre (1989–1999) angelegtes Zukunftsprogramm des Landes Nordrhein-Westfalen. Auf der Agenda stand die Umwandlung großer Industrieareale im fast 150 Jahre von Kohle und Stahl geprägten nördlichen Ruhrgebiet. In diesem Kontext wurde Zollverein Leitprojekt. 1989 begann auf der Schachtanlage XII die erste Sanierungsphase für eine Neunutzung der Hallen und Gebäude, die sich konsequent an dem Prinzip „Erhalt durch Umnutzung“ orientierte. Unter anderem entstand in der ehemaligen Kompressorenhalle 1996 das Casino Zollverein, das bis heute als eine der außergewöhnlichsten Restaurant- und Veranstaltungslocations des Ruhrgebiets gilt. 1997 konnte das Design Zentrum Nordrhein Westfalen in das ehemalige Kesselhaus ziehen, das von dem britischen Architekten Norman Foster in einen außergewöhnlichen Ort für Veranstaltungen und Präsentationen umgebaut worden war. 1999 wurde Zollverein zentraler Ankerpunkt der neu geschaffenen Route der Industriekultur – ein 400 Kilometer langer Straßenrundkurs, der das industriekulturelle Erbe der Region touristisch erschließt.
Mit der Ausstellung „Sonne, Mond und Sterne“ in der spektakulär umgebauten Mischanlage wurden große Bereiche der Kokerei Zollverein erstmals öffentlich zugänglich. Als Teil der IBA-Abschlusspräsentation sahen diese Ausstellung in den Jahren 1999 und 2000 insgesamt 300.000 Besucher, was die Erwartung der Veranstalter um ein Vielfaches übertraf.
Darüber hinaus waren es in dieser Pionierphase vor allem Künstler und Kreative, die Zollverein als inspirierenden Ort entdeckten und die ersten sanierten Hallen bezogen. Von 1992 bis 1997 nutzte der Bildhauer Ulrich Rückriem die Halle 5 auf Schacht XII als Atelier und Ausstellungsraum. Auf dem stillgelegten Zechengelände zeigte er 1992 im Rahmen der documenta IX seine Arbeiten und erklärte die einstige Zeche kurzerhand zur Außenstation dieser Weltausstellung der Kunst – ein Novum in der documenta-Geschichte. Heute können Spaziergänger im Skulpturenwald auf der Halde zwischen der Schachtanlage XII und der Kokerei einige Kunstwerke Rückriems entdecken, darunter die monumentale Granitskulptur „Castell“.
Strukturwandel: Industriekultur und Tourismus (2001–2020)
Die Ernennung der stillgelegten Zeche und Kokerei Zollverein zum UNESCO-Welterbe 2001 war zugleich der Startschuss für den weiteren Ausbau des Gesamtgeländes: Der Architekt Rem Koolhaas entwickelte mit seinem Rotterdamer Office for Metropolitan Architecture (OMA) 2002 einen Masterplan für die Umgestaltung des Standortes in einen lebendigen Kultur- und Wirtschaftsstandort. Der Um- und Ausbau der Kohlenwäsche zum Ausstellungsraum für das Ruhr Museum und Besucherzentrum Ruhr wurde bis 2010 als erste bauliche Infrastruktur-Maßnahmen verwirklicht. Seitdem besuchen 1,5 Millionen Touristen jährlich das Welterbe Zollverein (2011–2019). Bis 2009 hatte sich die Besucherzahl langsam, aber stetig der Millionenmarke genähert. 2010, als das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas war, verzeichnete das Welterbe Zollverein die Rekordbesucherzahl von 2,2 Millionen Gästen. Neben der wachsenden Zahl von Besuchern aus anderen Bundesländern und dem Ausland – fast zwei Drittel der Besucher kommen von außerhalb der Region – wird das Welterbe Zollverein auch von den Bewohnern des Ruhrgebiets als Ausflugsziel sehr geschätzt: Zollverein ist inzwischen das beliebteste Freizeitziel in der gesamten Region.
Grüne Hauptstadt Europas
Im Jahr 2017 stand vor allem der Zollverein-Park im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit: Das Welterbe Zollverein war neben dem Grugapark und dem Baldeneysee einer der drei Hauptspielorte der „Grünen Hauptstadt Europas – Essen 2017“. Bei Führungen und Veranstaltungen vom Geo-Tag der Artenvielfalt bis hin zu Workshops und Exkursionen informierten sich Besucher über den Wandel der ehemaligen Industrieanlage in einen rund 70 Hektar großen Park mit einer artenreichen Industrienatur. Mehr als 700 Tier- und Pflanzenarten sind auf Zollverein bereits nachgewiesen, darunter etwa 100 Flecht-, 40 Vogel- und 20 verschiedene Schmetterlingsarten. Die zentrale Ausstellung „Grün in der Stadt Essen. Mehr als Parks und Gärten“ in Halle 5 sahen mehr als 35.000 Interessierte. Mit einer kostenlosen Wanderkarte „Natur auf Zollverein“ können die Besucher seitdem an zwölf Stationen die Besonderheiten des Ökosystems auf Zollverein kennenlernen.
Herkunft und Zukunft
Als 2018 das letzte aktive Steinkohlenbergwerk des Ruhrgebiets in Bottrop schloss und eine ganze Ära endete, blickte die Region unter dem Motto „Glückauf Zukunft!“ ein ganzes Jahr lang auf ihre große fast 170-jährige industrielle Vergangenheit zurück. Das UNESCO-Welterbe Zollverein rückte als internationales Best-Practice-Modell für die gelungene Transformation industrieller Standorte in den Fokus: als Wahrzeichen einer enormen Erfolgsgeschichte und als Symbolort für den Brückenschlag zwischen Herkunft und Zukunft, der die Entwicklung von rauchenden Schloten hin zu einem attraktiven Kultur- und Wirtschaftsstandort erfolgreich vollzogen hat. Zugleich wurde deutlich, dass Zollverein als der Ort, an dem von Beginn an Innovationen entwickelt und neue Ideen erprobt wurden, diese Tradition auch künftig fortsetzen wird.
Visionärer Vordenker und der Architekt des Ruhrgebiets nach dem Zeitalter der Steinkohlenförderung war Dr. Werner Müller (1946-2019). Um seine Lebensleistung zu würdigen, trägt seit 2020 der prominente Platz vor der Kohlenwäsche der ehemaligen Zeche Zollverein seinen Namen.